10 persönlich & geschäftlich Mittwoch, 24. April – Dienstag, 30. April 2024 Besucherandrang bei «Würdig leben bis zuletzt» V.A. Mit diesem Besucherandrang hatten die Veranstal- ter am vergangenen Dienstag nicht gerechnet. Anlass der Veranstaltung, die sich rund um Fragen drehte, was es für ein «Würdig leben bis zuletzt» braucht, ist die anstehende kanto- nale Gesetzesrevision, welche den Alters- und Pflegeheimen neu vorschreiben will, dass sie assistierten Suizid zulassen müssen. Dr. med. Raimund Klesse, Alterspsychiater, ging in seinem Eingangsreferat auf den Wert und die Bedeutung der älteren Generation für die heutige Gesellschaft ein. Die jetzigen älte- ren Generationen seien die ersten, die so gesund alt werden können. Doch das Alter könne auch Beschwerden und Leid mit sich bringen. Veränderungen, gesundheitliche Probleme, Verlust von Partner und Freunden würden manchmal zu Vere- insamung oder Verzweiflung führen. Wenn dann ein Mensch sagt er wolle nicht mehr leben, heisse das nicht, dass er sterben wolle. Es heisst, dass er so, wie die Situation momentan ist, nicht weiterleben will. Hier brauche es ein menschliches Gegenüber, eine Pflegende, ein Familienmitglied, oft auch einen Arzt, der den Menschen in seiner Not verstehe. In einer Vertrauensbe- ziehung kann entwickelt werden, wie die persönliche Situation verbessert werden kann. Oft unterschätzt man die Bedeutung älterer Menschen, mit ihrer reichen Lebenserfahrung für die Familie, Mitbewohner im Heim und die ganze Gesellschaft. Sie haben auch den Wohlstand, von dem wir heute profitieren, geschaffen. Sie haben das Recht, wertgeschätzt und respektiert zu werden. Jedem Menschen steht eine unveräusserliche Wür- de zu. In den Heimen versuchen die Pflegenden, ein Daheim in einem lebensbejahenden Klima zu schaffen. Dass der Mensch die ihm zustehende Würde leben kann, braucht es auch die Familie, die Nachbarn, und die ganze Gesellschaft. Assistierte Suizide in Heimen dagegen können schwerwiegende Auswir- kungen auf die ganze Atmosphäre, die Pflegenden und auch die Mitbewohner haben. Der Referent plädierte dafür, dass in unserer Demokratie jedes Heim die Freiheit haben müsse, selbst über seine Kultur zu entscheiden. Wünsche der BewohnerInnen für die Würde zentral Andrietta Räss, Pflegedienstleitung des Zentrums Gugger- bach, berichtete, dass es für sie zentral sei, die Wünsche der Bewohnerinnen in den Mittelpunkt zu stellen, um ihre Würde sicherzustellen. Sie veranschaulichte dies anhand eines Beispi- els einer blinden und immobilen Bewohnerin. Während das Pflegepersonal möglicherweise annimmt, dass es für die Bewo- hnerin wichtiger wäre, wieder sehen zu können, könnte für sie selbst die Möglichkeit, sich zu bewegen, von höherer Bedeu- tung sein, während das Sehvermögen sekundär ist. Daher ist es entscheidend, die persönlichen Präferenzen und Bedürfnisse der Bewohnerinnen zu respektieren und zu unterstützen. Für viele Bewohnerinnen wird das Heim zu einem neu- en Zuhause, in dem sie Freundschaften knüpfen und soziale Interaktionen mit dem Pflegepersonal pflegen können. Es ist wichtig, eine Umgebung zu schaffen, in der sich die Bewoh- nerinnen wohl und geborgen fühlen und ihre Lebensqualität bestmöglich erhalten bleibt. Die Selbstbestimmung und Auto- nomie der Bewohnerinnen sollten stets respektiert und gewahrt werden. Gewährleistung der Religions- und Gewissensfreiheit: Landrat Christian Thomann bedauert, dass die schwindenden christlichen Werte, wie die christliche Nächstenliebe, auch dazu führten, dass immer mehr Menschen vereinsamen. Es sei eine gesellschaftliche Aufgabe, sich um diese Menschen zu küm- mern. Hingegen sei es nicht Aufgabe des Kantons, die Alters- und Pflegeheime zu zwingen, den assistierten Suizid in ihren Räumlichkeiten zuzulassen. Insbesondere dann nicht, wenn dieser nicht im Einklang ist mit dem Leitbild der Heim-Trä- gerschaft. Einerseits werden Pflegende in ihrer Religions- und Gewissensfreit eingeschränkt, andererseits stelle dies auch eine Einschränkung der Autonomie der Trägerschaft wie auch der Gemeinde dar, die auch oft öffentliche Gelder für diese Institu- tion sprechen. Tod als Teil des Lebens: Das einzige, was gesichert sei, ist unsere Endlichkeit und das Sterben. Pfarrer Susak beantwor- tete die Frage, ob wir uns zu Lebzeiten zu wenig mit dem Tod, Sterben beschäftigen und uns daher so sehr davor fürchten, mit einerseits der höheren Lebenserwartung und natürlich der besseren Gesundheitsversorgung. Früher war es gerade in grösseren Familien normal, dass mehrere Kinder das Erwach- senenalter nicht erreichten, die Lebenserwartung lag bei 40-50 Jahren. Das ist heute ganz anders, einerseits verspreche man in Werbebotschaften ewige Jugend, die Lebenserwartung ist viel höher, da sei es natürlich, dass man sich weniger mit der Endlichkeit beschäftige und auch die Bedeutung des Abschieds Nehmens, des Sterbeprozesses verkenne. Die Kirchen nehmen mit der Seelsorge in diesem wichtigen Prozess eine bedeutende Funktion wahr, aber natürlich auch dann, wenn es darum geht als christliche Gemeinschaft die Vereinsamung zu bekämpfen. Ethische Herausforderung: Mit dem Verweis auf die Bündner Polizeistatistik, die eine klare Zunahme der assistierten Suizi- de in den Jahren 2021 und 2022 von rund 38% auf neu 47.16% (2023) ausweist, fragte die Moderatorin, Valérie Favre Accola, die DiskussionsteilnehmerInnen, wie man auch im Anbetracht der steigenden Gesundheitskosten, der Belastung des Pflege- dienstpersonals und von Wartelisten sicherstellen könne, dass BewohnerInnen sich selbst nicht das Recht absprechen, zu existieren, sich selbst nicht auf einen «Kostenfaktor» reduzieren und daher auch vermehrt an assistierten Suizid denken. Die Diskussionsrunde war sich einig, dass man dies bedauerlicher- weise kaum sicherstellen könne, insbesondere nicht, wenn die Zahl der assistierten Suizide zunimmt und in der Folge davon eine Dynamik entsteht. Das Publikum hatte ebenfalls die Möglichkeit, sich zu äus- sern und Fragen zu stellen. In der Schlussrunde dankten die DiskussionsteilnehmerInnen dem Zentrum Guggerbach für die hervorragende Führung und äusserten den Wunsch, dass die Gemeinschaft «Nächstenliebe» lebt, den Mitmenschen Zeit schenkt. Der Auftrag von SP Grossrat Pascal Pajic betreffend Selbst- bestimmung am Lebensende in Alters- und Pflegeheimen (gr. ch) wurde 2021 überwiesen und fordert, dass Bündner Alters- und Pflegeheime, die u.a. mit öffentlichen Geldern unterstützt werden, assistierten Suizid zulassen müssen, auch wenn dieser nicht im Einklang ist mit dem Leitbild der jeweiligen Institutio- nen. Die Gesetzesrevision läuft, eine entsprechende Vernehm- lassung, öffentliche Diskussion und die Verabschiedung durch den Bündner Grossen Rat steht noch aus.